Das Bild, der Raum und die gefangene Sehnsucht

Carl Friedrich Schröer

Das Bild, der Raum und die gefangene Sehnsucht

Zur Malerei von Celina Jure

Carl Friedrich Schröer

Hoch oben, auf einer Bergkuppe oder einem Felsvorsprung sind wir angekommen und halten Ausschau ins Freie. Was genießen wir nach den Strapazen des Aufstiegs mehr, als die freie Aussicht auf die Welt ringsrum aus gehöriger Distanz, auf Tal und Felder und Flüsse, auf Städte und Straßen, Wälder und Berge und darüber der weite Himmel aufgespannt?

Als Petrarca sich im April 1336 frühmorgens auf den Weg machte, den Mont Ventoux zu besteigen, gab es für den Dichter mindestens zwei Gründe: Er suchte die Nähe Gottes. Auf dem steilen "Weg des Lasters" wollte er hinauf, um seinem Gott näher zu kommen. Die Bergbesteigung wurde zum Gleichnis seiner geistigen Erhebung. Aber Petrarca im Exil litt auch an einer anderen Sehnsucht. Fern seiner Heimat, der Toskana, war er an unbändiger Liebe zu seiner Heimat entbrannt. Vom Gipfel des Mont Ventoux aus konnte er, bei klarer Sicht, bis nach Italien sehen und selbst die grünen Hügel der Toskana ahnen. Petrarcas Bergsteigung gilt als das Entdeckungsdatum der Landschaft. Jacob Burckhardt zählte diese Bergtour in der Französischen Provinz zu den kulturellen Schlüsselerlebnissen der Renaissance. Im Landschaftserleben erscheint Natur nämlich als ästhetischer Selbstzweck. Eine Befreiung? Doch was tat der Dichter auf dem Gipfel des Bergs? - Er schlug ein Buch auf. Statt sich der Aussicht hinzugeben, las Petrarca in den Confessiones des Augustin.

Celina Jure eine Landschaftsmalerin zu nennen, ergibt nur als eine vergleichende Kathegorie Aufschluß über ihr Werk. Ihre Malerei ist abstrakt, informell und gestisch. Sie ist aktionistisch und prozeßhaft. Sie ist bildsprengend und raumbezogen. Das Raumerlebnis ist keineswegs perspektivisch auf einen "fixierten Blick" und festen Standrot des Malers bezogen. Es gibt keine Ordnung in Vordergrund, Mittel- und Hintergrund, keine veristischen Details von Natur, noch erkennbare Landschaftsstrukturen, Wege, Brücken oder Felsformationen - und damit wäre Jures Werk am anderen, entgegengesetzten Pol des Planeten Malerei anzusiedeln, als etwa die Landschaftsmalerei.

Im frühen 16. Jahrhundert tauchte in Europa erstmals das Wort `Landschaft´ im Zusammenhang mit Malerei auf. Dürer nennt 1521 Joachim Patinir den "gut landschafttmahler". In Patinirs Gemälden weitet sich die Toposdarstellung zu Landschaft. Ihren einheitlichen Raumeindruck verdankt sie dem Aufbau nach drei Zonen: dem dunklen, bräunlichen Vordergrund, dem grünen Mittelgrund und dem verblauenden Hintergrund. Die Landschaft erscheint als perspektivisch auf den Maler bezogen und erhält durch ihn erst seine geistige Ordnung. Die Konstruktionsweisen der sich in der Folge zur eigenen Gattung entwickelnden "klassischen Landschaftsmalerei" sollten über 300 Jahre lang gültig bleiben.

Celina Jure lebt auf zwei Kontinenten, Südamerika und Europa. Sie lebt als Reisende zwischen den zigtausende Kilometer entfernten Welten San Salvador de Jujuy und Düsseldorf. Als Malerin zwischen den Ansprüchen westlicher Kunst und ihrer eigenen Herkunft und Geschichte und ihrem eigenen künstlerischen Elan. - Warum also ihre so eigenständige wie herausragende Malerei überhaupt mit "Landschaftsmalerei" in Beziehung setzen? Die einzige Übereinstimmung zwischen Jures Bildbahnen - die sich bis zu 90 Metern erstrecken - und den europäischen Landschaftsbildern ist die Horizontalität. Eine äußere, formale Übereinstimmung. Aber es gibt auch eine inhaltliche Seite. Sind es nur Farbspuren, -Strudel und -Kluster, gestische Feldversuche, emotionalisierende Energiefelder einer sich auf raumgreifenden Bahnen vollziehenden Malerei? - Alles wird in großen, farbenprächtigen Zügen vor unser Augen ausgebreitet - und alles bleibt uns verschlossen.

Ich vermute dagegen, es sind Beschwörungslandschaften. Gemalt in der Fremde, weit, weit entfernt von der Heimat, den Wäldern und mächtigen Bergen der Anden, um der heimatlichen Erde Tribut zu zollen. Sie nicht zu verlieren und aufzugeben. Celina Jure will diese Landschaft nicht wiedererkennbar malen - welchen Zweck hätte das auch, wo doch kaum jemand diese ferne Gegend kennt? Doch will sie sich dieser großen Landschaft durch einen gewagten malerischen Akt verbunden zu fühlen, ja im malerischen Tun, einem rituellen Tanz ähnlich, eine Verbindung mit der eigenen Herkunft und Natur eingehen. - Eine Beschwörung der besonderen Erde und des Lichts, der harten unerbittlichen, lebensspendenden Sonne und des heftigen Regens, der Winde und des Gesangs der Vögel (Libellen und Kolibris habe ich in ihrem Garten gesehen) und der unvorstellbar reichen wuchernden Vegetation, der wechselnden Himmel.

Wo Celina Jure aufgewachsen ist und sich ein Haus gebaut hat, leben die Menschen hoch, 1200 bis über 4000 Meter über dem Meeresspiegel. Fast so hoch wie der Mont Ventoux. Aber selbst vom Fernsehturm im Düsseldorfer Hafen aus ließe sich nicht hinüberblicken in die Heimat der argentinischen Anden. So hat Celina Jure eigene Panoramen gemalt, magisch aufgeladenen Farbformationen, sich ins unendliche erstreckende, abstrakte Riesenrundbilder, die uns befreienden Ausblick auf eine andere, ferne undbieten.